2016 – Thema D – Hubert Patterer


Thesenpapier Bildung

Der Befund ist durch Studien mannigfach dokumentiert: Obwohl Österreich im Pro-Kopf-Vergleich eines der höchsten Schulbudgets Europas aufweist, bringt das Land bei den Tests lediglich Mittelmaß hervor. Auch hier: ein Land in der Durchschnittsfalle. Zu viel Geld versickert in der Bürokratie, zu wenig kommt dort an, wo es am meisten gebraucht wird: in den Klassenzimmern, in der gezielten, individuellen Förderung. Diese aufwändig finanzierte Mittelmäßigkeit kann sich ein kleines Land, dessen Schätze nicht aus dem Boden kommen, und daher aus den Köpfen der Klugen, Wissbegierigen und Innovativen kommen müssen, im globalen Wettstreit nicht länger leisten.

Die Bildung steht prototypisch für die Erneuerungsunfähigkeit des Landes. Versuche, das strukturell und inhaltlich veraltete Schulsystem an die Notwendigkeiten moderner, digital geprägter Wissensgesellschaften anzupassen, scheitern seit Jahrzehnten, weil sie stets im Morast parteipolitischer Ideologie sowie des Machtanspruchs von Lehrergewerkschaften zum Stillstand kommen. Allen Bildungsminister in diesem Jahrhundert ist diese zweifache, strangulierende Umklammerung zum Verhängnis geworden.

Vor diesem Hintergrund mussten sämtliche Reformbewegungen erratisches Flick- und Stückwerk bleiben. Entweder gab es kostspielige Bypass-Maßnahmen (Neue Mittelschule), pädagogisch anspruchslose Kompromisse (Ausbau der Nachmittagsaufsicht statt Überwindung des Vormittag-Modells) oder isolierte Einzel-Eingriffe (Modulare Oberstufe, Zentralmatura), die so gut wie nie in ein großes kompositorisches Ganzes eingebettet waren.

Genau das fehlt: ein neues, in die Zukunft gerichtetes, gesamthaftes Bildungsleitbild, das sich von der vorschulischen Bildung bis zu den Hochschulen spannt. Die Politik sollte die besten Bildungswissenschaftler des Landes damit beauftragen und das Parlament darüber frei abstimmen lassen. Es wäre ein Dienst am Land, seiner Jugend und seiner Zukunft.

Die innere Hierarchie im gegenwärtigen Bildungssystem ist radikal auf den Kopf zu stellen. Was unten ist, gehört obenauf, auf Augenhöhe mit dem akademisch ausgebildeten Überbau. Der Dünkel muss weg. Unten muss das neue Oben sein. Was in frühen Jahren verabsäumt wird, lässt sich später nur schwer korrigieren. Kinderkrippen und Kindergärten sind Bildungs- und keine Aufbewahrungsstätten, die dort Arbeitenden keine Tanten, sondern Pädagogen. Sie sind ordentlich auszubilden und gemäß ihrer Verantwortung zu bezahlen. Der Arbeit mit den Kindern sind klare und transparente Bildungsziele und -pläne zugrunde zu legen, basierend auf den Erkenntnissen der frühkindlichen Pädagogik, der Entwicklungspsychologie und der Gehirnforschung. Die Neugierde kommt nicht mit zehn, sie geht einher mit dem Eintritt ins Leben. Sie ist die wichtigste Moduliermasse. Warum ist im System mit den Jahren so oft nichts mehr davon da?

Der Unfug mit dem Einser-Gefeilsche am Ende der Volksschule, um nur ja ins Gymnasium gehen zu dürfen, gehört beseitigt. Jedem Kind mit zehn soll die Möglichkeit offenstehen. So früh lässt sich keine valide Bildungsprognose erstellen. Die Grenzzäune gehören weg, sie verstärken das Vererben von familiären Bildungsstandards und festigen milieubedingte Benachteiligungen.

Selektion und Elitenbildung sind wichtig, aber nicht im Milchzahnalter. Man muss deshalb das Gymnasium nicht abschaffen, im Gegenteil, man soll es nur an der Eingangspforte demokratisch öffnen und den Unterbau je nach Eignung und Neigung ordentlich ausdifferenzieren. Das ist anspruchsvoll und nicht nivellierend. Es muss das grundlegende Interesse eines kleinen Landes sein, möglichst vielen Heranwachsenden ein möglichst breites, solides Bildungsfundament zu ermöglichen. Das Aussieben mit zehn unterläuft dieses Interesse. Mit 14, 15 sollen die Schwellen dann sein. Da lässt sich viel valider feststellen, ob jemand die Voraussetzungen für die Höhere Schule mitbringt oder aber in die duale Berufsausbildung abzweigt. Die ist vom Makel der vermeintlich geringeren Wertigkeit zu befreien und gehört durch eine Image-Politur und Modernisierung des schulischen Angebots (Fremdsprache!) angehoben.

Entscheidend also ist der Fokus auf die Nahtstellen des Bildungssystems, auf die Übergänge mit sechs, zehn und vierzehn. Sie alle müssen mit präzisen, transparenten und verbindlichen Bildungszielen unterlegt werden. Es darf keine falschen Passierscheine zu Lasten der Schüler und der nachkommenden Ebene mehr geben. Wie in den nordischen Ländern muss es regelmäßige Überprüfungen der Standards geben, ohne falsche Diskretion, freilich mit Berücksichtigung der sozialen Faktoren. Wo die Standards unterschritten werden, müssen an der betroffenen Schule mit den betroffenen Lehrern Gegenmaßnahmen erarbeitet werden. Und, wo es die Evaluierung nahelegt und didaktische Mängel vorliegen, können auch die betroffenen Lehrer Teil der Gegenmaßnahmen sein.

Bestandteil eines solchen, grob skizzierten Bildungsleitbildes sollte darüberhinaus die Etablierung einer neuen Kultur des selbstregulierten und selbstverantwortlichen Lernens sein, eines Lernens, das die Motivation hochhält und nicht verkümmern lässt. Schule als Impuls für ein Lernen, das nichts Abgeschlossenes ist, sondern sich über das ganze Leben spannt – das müsste das Ziel sein.

Im Korsett des vormittäglichen Unterrichtsmodells mit seiner atemlosen Abfolge von Fächern, zerhackt in 50-minütige Einheiten, mit permanentem Perspektiven- und Themenwechsel, lässt sich eine solche Lernkultur, die auf das gemeinsame Vertiefen, Vernetzen, Erleben und Erforschen setzt, nur schwer verwirklichen. Anstatt zu dieser überholten Struktur um viel Geld eine nachmittägliche Stillbeschäftigung dranzuhängen, wäre es pädagogisch sinnvoller und nachhaltiger, den schulischen Alltag unter Einbeziehung außerschulischer Angebote neu und kreativ ganztägig zu rhythmisieren – mit neuen Lehrinhalten (Medienerziehung/Gesundheit/Wirtschaft) und einem Schwerpunktprofil, das eine in die Autonomie zu entlassende Schule eigenständig erarbeitet, mit selbst ausgewähltem Lehrpersonal, das sich qualitativ aus dem Profil ableitet. Dann wäre Schule keine gigantische Vergessensmaschinerie, die bei Lehrenden wie Lernenden mit Fortdauer Frustration anhäuft, sondern ein moderner, dynamischer Dienstleister am freien Markt der Wissenshungrigen.


Über Hubert Patterer

Germanistik- und Anglistik-Studium in Klagenfurt. 1984 Eintritt in die „Kleine Zeitung“ Klagenfurt. Ab 1992 Leitung der Ressorts Sport, Kultur und Lokales, 1997 Ernennung zum stellvertretenden Chefredakteur. Im April 2000 Wechsel zur „Kleinen Zeitung“ nach Graz als stellvertretender Chefredakteur. Seit 2006 Chefredakteur der „Kleinen Zeitung“ und Geschäftsführer der Kleine Zeitung GmbH & CoKG. [Foto: © Kanizaj]