2016 – Thema A – Paul Lendvai


Gegen die Gleichgültigkeit

Nicht nur Österreich, sondern ganz Europa befindet sich in einer bedrohlichen Situation: die vielen Facetten des individuellen und institutionellen Terrors, die aus den Fugen geratene Flüchtlingskrise, das Wiederaufleben des Nationalismus und des Tribalismus, die gähnende Kluft zwischen den Eliten und den Massen, die Hochkonjunktur der geistigen Brandstifter, die Gefahr von neuen Kon­frontationen zwischen den liberalen Demokratien und den autori­tären Führerstaaten.

Gerade die österreichische Geschichte lehrt, dass es ohne Kompromissbereitschaft, ohne Verständnis für die Ge­bote der Toleranz und der Menschlichkeit, ohne Freiheit keine Sicherheit geben kann. Bei der Verarbeitung der Ver­gangenheit und bei der Suche nach realistischen Optionen in der Politik und Wirtschaft spielen die Druck- und elektronischen Medien trotz des Vormarsches von Face­book, Twitter, Instagram etc. weiterhin eine wichtige Rolle.

Der Kampf gegen die Korruption muss ohne Rücksicht auf die politischen Farben der betroffenen Personen und Institutionen konsequent und mutig geführt werden. Was der kürzlich verstorbene deutsch-amerikanische Historiker Fritz Stern als „das feine Schweigen“ bezeichnet hat, darf nicht, wie etwa in den Dreißiger Jahren, den politischen Diskurs bestimmen und die eindeutigen Stellungnahmen gegen Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und moslem­feindlichen Rassismus verhindern.

Ich habe mir erlaubt, am Ende meines Österreich-Buches (2007) die Maxime des großen österreichisch-britischen Philo­sophen Sir Karl Popper zu zitieren: „Die offene Zukunft enthält unabsehbare und moralisch gänzlich verschiedene Mög­lichkeiten. Deshalb darf unsere Grund­einstellung nicht von der Frage beherrscht sein: ‚Was wird kommen?‘, sondern von der Frage: ‚Was sollen wir tun? Tun, um wo­möglich die Welt ein wenig besser zu machen?‘.
Diesem Ziel sollten solche Treffen wie „Österreich 22“ in Graz dienen.

Was wir heute mehr denn je brauchen, sind nicht höfliche Banalitäten, sondern offene Debatten über die Gefahren und die Lösungsmöglichkeiten in unserem Land.

 


Über Paul Lendvai

Prof. Paul Lendvai war langjähriger Wiener Korrespondent der „Financial Times“ (1960-1982), dann Chefredakteur und Intendant (bis 1998) beim ORF, Autor von sechzehn Büchern, die in elf Sprachen veröffentlicht wurden; Träger zahlreicher in – und ausländischer Auszeichnungen; derzeit ist er Leiter der TV-Diskussionssendung „Europastudio“, Chefredakteur und Mitherausgeber der Vierteljahreszeitschrift "Europäische Rundschau“, Kolumnist der Tageszeitung „Der Standard“. [Foto: © Thomas Ramstorfer]