2016 – Thema B – Wolfgang Mazal


Sozialsystem: Weiterentwicklung ermöglichen

Weil Wähler wegen der existenziellen Betroffenheit über sozialpolitische Regelungen unmittelbar adressiert werden können, spielen in der aktuellen Tagespolitik zahl­reiche Einzel­probleme eine große Rolle. Allerdings besteht ange­sichts der redundanten Debatten dieser Einzelfragen mit immer festgefressenen Positionen die Gefahr, dass die grund­legenden Herausforderungen übersehen werden, vor denen die weitere Entwicklung des Sozialstaats steht:

Die Neubestimmung gesamthafter Balancen zwischen Eigenverantwortung und Solidarität, das Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit, sowie von Freiheit und Begrenzung. Dass dabei eine Diskurskultur zu entwickeln ist, die unterschiedliche Standpunkte akzeptiert und auf einen Ausgleich gegenläufiger Interessen gerichtet ist, ist ebenso wichtig wie der Umstand, dass gefundene Kompromisse nicht als defizitär diskreditiert werden.

Überlegt man, ob die Politik den künftigen Heraus­for­derungen Rechnung tragen kann, kann man zwischen zwei Extremen schwanken, die kausal denken: Wer Opti­mismus versprüht, kann mit Fug und Recht der Gewissheit Aus­druck verleihen, dass das System auch in Zukunft leistungs­­fähig sein wird, weil er auf die Errungenschaften der Ver­gangen­heit verweist und die bisherige Entwicklung in ihrer Großartigkeit schätzt. Der Pessimist hingegen wird mit Fug und Recht bezweifeln, dass die Sozialpolitik den Anforderungen der Zukunft genügen wird, weil jahrelange politische Blockaden und tiefgreifend unterschiedliche Meinungen und Klientelinteressen kaum überbrückbar er­scheinen.

Ich möchte weder den einen noch den anderen Stand­­punkt einnehmen, sondern konditional formulieren: Wenn es gelingt, das System der Sozialen Sicherheit an die Ge­geben­heiten des 21. Jahrhunderts anzupassen, wird es möglich sein, die Erfahrungen Europas in der Entwicklung einer lebenswerten Gesellschaft, in der solidarisch Ver­­ant­­wortung für Menschen getragen wird, die von Lebens­­­risiken getroffen sind, und eine als fair empfundene Chancen­­­ver­teilung erfolgt, auch in die Zukunft zu tragen. Wer hin­­gegen die Anpassung von Strukturen und Insti­tutionen verhindert, die im 19. Jahrhundert entstanden sind, und wer soziale Leistungsniveaus verteidigt, die im dritten Drittel des 20. Jahrhunderts möglich waren, wird das Brechen des Sozialsystems zu beklagen und zu ver­ant­worten haben.


Über Wolfgang Mazal

Uni­versitäts­pro­fessor und langjähriger Vorstand des Instituts für Arbeits- und Sozial­recht der Universität Wien sowie seit 2002 Leiter des Österreichischen Insti­tuts für Familienforschung an der Universität Wien. Gastprofessor an der Kyoto State University. 2009 bis 2019 Leiter des Kuratoriums der Donau-Uni­versität Krems. Außerdem Vize­präsident der Öster­reichi­schen Agentur für Qualitätsbewertung und Akkreditierung AQ.Austria. [Foto: © Privat]