Sozialsystem: Weiterentwicklung ermöglichen
Weil Wähler wegen der existenziellen Betroffenheit über sozialpolitische Regelungen unmittelbar adressiert werden können, spielen in der aktuellen Tagespolitik zahlreiche Einzelprobleme eine große Rolle. Allerdings besteht angesichts der redundanten Debatten dieser Einzelfragen mit immer festgefressenen Positionen die Gefahr, dass die grundlegenden Herausforderungen übersehen werden, vor denen die weitere Entwicklung des Sozialstaats steht:
Die Neubestimmung gesamthafter Balancen zwischen Eigenverantwortung und Solidarität, das Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit, sowie von Freiheit und Begrenzung. Dass dabei eine Diskurskultur zu entwickeln ist, die unterschiedliche Standpunkte akzeptiert und auf einen Ausgleich gegenläufiger Interessen gerichtet ist, ist ebenso wichtig wie der Umstand, dass gefundene Kompromisse nicht als defizitär diskreditiert werden.
Überlegt man, ob die Politik den künftigen Herausforderungen Rechnung tragen kann, kann man zwischen zwei Extremen schwanken, die kausal denken: Wer Optimismus versprüht, kann mit Fug und Recht der Gewissheit Ausdruck verleihen, dass das System auch in Zukunft leistungsfähig sein wird, weil er auf die Errungenschaften der Vergangenheit verweist und die bisherige Entwicklung in ihrer Großartigkeit schätzt. Der Pessimist hingegen wird mit Fug und Recht bezweifeln, dass die Sozialpolitik den Anforderungen der Zukunft genügen wird, weil jahrelange politische Blockaden und tiefgreifend unterschiedliche Meinungen und Klientelinteressen kaum überbrückbar erscheinen.
Ich möchte weder den einen noch den anderen Standpunkt einnehmen, sondern konditional formulieren: Wenn es gelingt, das System der Sozialen Sicherheit an die Gegebenheiten des 21. Jahrhunderts anzupassen, wird es möglich sein, die Erfahrungen Europas in der Entwicklung einer lebenswerten Gesellschaft, in der solidarisch Verantwortung für Menschen getragen wird, die von Lebensrisiken getroffen sind, und eine als fair empfundene Chancenverteilung erfolgt, auch in die Zukunft zu tragen. Wer hingegen die Anpassung von Strukturen und Institutionen verhindert, die im 19. Jahrhundert entstanden sind, und wer soziale Leistungsniveaus verteidigt, die im dritten Drittel des 20. Jahrhunderts möglich waren, wird das Brechen des Sozialsystems zu beklagen und zu verantworten haben.