Österreich 22 – neues Regieren in der Mitte der Gesellschaft.
Ich konzentriere mich im Folgenden auf die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Bürgern und Staat verändert hat, wie es 2022 sein wird und was daraus für eine „Politik der Mitte“ zu lernen ist.
In der Analyse muss man meiner Ansicht nach damit beginnen, dass sich die Beziehungen tendenziell von einem hierarchischen System zu einem System von Vertragsbeziehungen „auf gleicher Augenhöhe“ weiterentwickelt haben, in der der Bürger nicht mehr Antragsteller und Untertan, sondern Kunde und Partner „auf gleicher Augenhöhe“ ist. Spätestens mit dem EU-Beitritt hat sich das Verhältnis des Staates zu den Bürgern geändert. Staatliche Hierarchien sind aufgelöst, der Bürger ist Kunde im Sinne des „New Public Management“, Jobs und Aufträge werden nach objektivierten Verfahren vergeben, Interventionen sind sinnlos geworden.
Für diesen Shift von hierarchischer zu vertragsbasierter Gesellschaft haben die Mitte-Parteien noch keine überzeugenden „Versprechen“, „Angebote“ und „Erzählungen“ entwickelt. In der Kommunikation haben die Parteien der Mitte zwar gelernt, die sozialen Medien zu benutzen, allerdings ohne auch tatsächlich erkennbare und unterscheidbare Positionen zu beziehen. Die Botschaften erschöpfen sich in schönen Fotos und bloßen Richtungs- und Visionsbeschreibungen („Wirtschaftsstandort stärken“, „Chancen erhöhen“, „Innovation fördern“, „Leistung belohnen“), ohne dass konkrete Maßnahmen, Prioritätensetzungen und Umsetzungszeitpunkte kommuniziert würden.
Was folgt aus all dem für die Politik der Mitte?
- Die aufgezeigte Entwicklung ist weder gut noch schlecht, sie ist ein gesellschaftliches Faktum und auch nicht kurzfristig beeinflussbar. Eine Politik der Mitte muss lernen, damit umzugehen, ihre Ziele und Visionen schlüssig zu kommunizieren und in Regierungsprogrammen knackige, maximal 20 Seiten umfassende Positionen zu beziehen.
- Regierungen müssen von erfolgreichen Unternehmen lernen, Ziele zu definieren und sich anschließend auch zu Priorisierungen und Maßnahmen zu bekennen, selbst wenn diese im Einzelfall unpopulär sein sollten. Die wichtigsten Maßnahmen müssen zwischen den Regierungspartnern felsenfest abgestimmt und auch frühzeitig kommuniziert werden („Erzählung“), um so das „Warum?“ und das „Wann und Wie?“ der Maßnahmen zu erklären.
- Das Wahlrecht sollte in ein Mehrheitswahlrecht geändert werden, damit die Mitte-Parteien gezwungen werden, sich stärker zu profilieren. Man kann nicht einerseits für Innovation und Produktivitätssteigerungen sein, und zugleich das Arbeitszeitgesetz und bürokratische Vorschriften verschärfen. Die Liste solcher Widersprüche ließe sich beliebig fortsetzen.
- Die Mitte-Regierungen müssen in der Lebenswelt der „Starbucks-Generation“ ankommen. Die Wähler des „Österreich 22“ trinken den Kaffee aus dem Pappbecher, tragen Jeans und beginnen den Sonntag überall anders, nur nicht in der Kirche. Die Mitte-Parteien müssen die Herzen der heute 20-Jährigen erobern und gleichzeitig die Hirne der 50-Jährigen ansprechen.
Es wird auch in „Österreich 22“ „Mitte-Regierungen“ und „Mitte-Bewegungen“ geben. Ob diese Mitte-Bewegungen aber ÖVP oder SPÖ heißen werden, ist nicht gesichert.
Es ist höchste Zeit für Erneuerung und Profilbildung, solange es nicht zu spät ist.