2021 – Wolfgang Mazal


// Es geht um die gesellschaftliche Kohäsion //

Begreift man den Begriff des Sozialen aus seiner etymo­logischen Wurzel als Ausdruck für Kohäsion einer Gesell­schaft, ist die Entwicklung des Themenfeldes „Soziales“ in den letzten Jahren ambivalent: Auf der einen Seite steht das Bemühen um weitere Verbesserungen im Bereich der Trans­ferleistungen und Steuerbegünstigungen, auf der anderen Seite stehen heftige politische Auseinander­setzungen im Bestreben, die Entwicklung im Sozialbereich weithin als desaströs zu kommunizieren und getroffene Entscheidungen möglichst bald wieder umzustoßen. Der Kohäsion der Gesellschaft und dem nachhaltigen Vertrauen in die Stabilität des Systems ist damit nicht gedient.
Ein gänzlich anderes Bild zeigt sich seit einiger Zeit nur in jenen Fragen, in denen die Sozialpartner mit Billigung der Regierung konsensual agieren. So wurde beispielsweise bezüglich der Kurzarbeit und der Fonds zur Entlastung der Selbständigen in der Coronakrise in der Öffentlichkeit ein positives Bild der sozialen Effekte vermittelt, obwohl viele ökonomischen Effekte fragwürdig sind. Außerdem wurden administrative Probleme der Abwicklung der Regierung zugeschrieben, obwohl sie Ergebnis der tech­nisch-handwerklich mangelhaften Gestaltung durch die Sozialpartner sind.
All dies hängt damit zusammen, dass in der Gesellschaft offensichtlich Grundkonsense über die Bewältigung von Effekten technologischer Entwicklungen, Effekten der Alterung der Gesellschaft und Effekten der globalen Ver­flechtung einer nach wie vor weitgehend auf Freihandel setzenden Weltwirtschaft fehlen. Der aus den Erfolgen in der Vergangenheit genährte Wunsch nach Geborgenheit in der Sozialpartnerschaft auch heute birgt allerdings die Gefahr in sich, dass notwendige Anpassungen des Arbeits- und Sozialrechts sowie des Abgabenrechts nicht, nur zögerlich oder gar unter Außerachtlassung anderer Interessen als jener der Sozialpartner erfolgen. Damit ist ins­besondere die intergenerationale Kohäsion der Gesell­schaft gefährdet.
Die Nagelprobe der gesellschaftlichen Kohäsion besteht freilich nicht darin, die Lösung gesell­schaft­licher Probleme dem Konsens ausgewählter Interessen­ver­tre­tungen anzu­vertrauen, sondern gelingt, wenn die demo­kratisch legiti­mierten Vertreter im parla­men­ta­ri­schen Prozess auf­einander zugehen, um einen um­fassenden Interessen­ausgleich zu erreichen und Mehrheitsentscheidungen zu akzeptieren.


Über Wolfgang Mazal

Uni­versitäts­pro­fessor und langjähriger Vorstand des Instituts für Arbeits- und Sozial­recht der Universität Wien sowie seit 2002 Leiter des Österreichischen Insti­tuts für Familienforschung an der Universität Wien. Gastprofessor an der Kyoto State University. 2009 bis 2019 Leiter des Kuratoriums der Donau-Uni­versität Krems. Außerdem Vize­präsident der Öster­reichi­schen Agentur für Qualitätsbewertung und Akkreditierung AQ.Austria. [Foto: © Privat]