// Wendezeiten //
Man hat sich in der Spätmoderne angewöhnt, in Linearitäten zu denken: Wachstum, Fortschritt, Machbarkeit – alles geht aufwärts. Globalisierung, Mobilität, Vernetzung – alles hängt immer intensiver zusammen. Gesundheit, Wohlfahrt, Wohlstand – es kann nur besser werden. Gewisse Unschönheiten (von der Wirtschaftskrise über die Flüchtlingskrise bis zum Brexit) sind ohnehin schon aufgetreten. Die Epidemie war nunmehr der letzte Anstoß, manche Grundannahmen und Entwicklungen, die man für selbstverständlich gehalten hat, zu überdenken.
Wir nehmen wahr:
(1) dass die Globalisierung kein Naturgesetz ist, das in rascher Entwicklung eine Weltgesellschaft zusammenwachsen lässt, sondern ein Prozess, der Schattenseiten hat und möglicherweise an einigen Stellen revidiert werden muss; (2) dass Europa, unter dem Druck eines hegemoniestrebenden Chinas und eines irrlichternden Amerika, langsam auf eigene Beine kommen müsste, aber dies, in Anbetracht von revisionistischen und unzuverlässigen Strömungen in den Mitgliedstaaten, auf absehbare Zeit nicht zustande bringen wird; (3) dass wir die Phase der unbeschränkt zunehmenden Mobilität quer über die ganze Welt hinter uns gelassen haben, weil sich epidemische Ereignisse nicht im Gleichklang bewältigen lassen, und dass wir uns deshalb auf dauerhaft eingeschränkte Weltbereisung einzustellen haben; (4) dass die Vernetzungsideologie, wonach ein Mehr an Kontakten und Interaktionen immer wünschenswert sei, im Großen und Kleinen an lebenspraktische virale Grenzen stößt; (5) dass wir, gerade in einer komplexen Welt, von technischen Systemen abhängig sind, die nicht notwendig in allen Lebenslagen funktionieren müssen, sodass wir möglicherweise angestrebte Effizienzverhältnisse zugunsten von Resilienz und Redundanz auf kluge Weise zurückbauen müssen; (6) dass Menschen körperliche Wesen und diese Körper Teil der Natur, in evolutiver Konkurrenz zu anderen Lebewesen, sind, sodass wir uns aus dieser biologischen Sphäre nicht (durch angeblich vor der Tür stehendes Human Enhancement) hinausstehlen können; (7) dass die Selbstzuschreibung einer Meisterung der Welt, diese anthropozentrische Perspektive, eine fehlerhafte Einschätzung gewesen ist und wieder ein bisschen bescheidener formuliert werden muss.
Das ist weder Romantisierung noch Retro-Ideologie. Vielleicht sind wir da oder dort ein wenig über das Ziel geschossen, jedenfalls in unseren Erwartungen. Unter den gegebenen Verhältnissen können wir uns nur mit Versuch und Irrtum vorantasten. Aber aus der Epidemie, die uns noch Jahre beschäftigen wird, können wir lernen, wie wir mit den kommenden Krisen, wie sie etwa im ökologischen Bereich, im Cyberwar oder im Blackout auftreten werden, umgehen können.