2021 – Manfred Prisching


// Wendezeiten //

Man hat sich in der Spätmoderne angewöhnt, in Lineari­täten zu denken: Wachstum, Fortschritt, Machbarkeit – alles geht aufwärts. Globalisierung, Mobilität, Vernetzung – alles hängt immer intensiver zusammen. Gesundheit, Wohlfahrt, Wohlstand – es kann nur besser werden. Gewisse Unschönheiten (von der Wirtschaftskrise über die Flüchtlingskrise bis zum Brexit) sind ohnehin schon aufgetreten. Die Epidemie war nunmehr der letzte Anstoß, manche Grundannahmen und Entwicklungen, die man für selbstverständlich gehalten hat, zu überdenken.
Wir nehmen wahr:
(1) dass die Globalisierung kein Naturgesetz ist, das in rascher Entwicklung eine Weltgesellschaft zusammen­wachsen lässt, sondern ein Prozess, der Schattenseiten hat und möglicherweise an einigen Stellen revidiert werden muss; (2) dass Europa, unter dem Druck eines hege­monie­strebenden Chinas und eines irrlichternden Amerika, langsam auf eigene Beine kommen müsste, aber dies, in Anbetracht von revisionistischen und un­zu­verlässigen Strömungen in den Mitgliedstaaten, auf absehbare Zeit nicht zustande bringen wird; (3) dass wir die Phase der unbeschränkt zunehmenden Mobilität quer über die ganze Welt hinter uns gelassen haben, weil sich epi­demische Ereignisse nicht im Gleichklang be­wäl­tigen lassen, und dass wir uns deshalb auf dauerhaft ein­ge­schränkte Weltbereisung einzustellen haben; (4) dass die Vernetzungsideologie, wonach ein Mehr an Kon­takten und Interaktionen immer wünschenswert sei, im Großen und Kleinen an lebenspraktische virale Grenzen stößt; (5) dass wir, gerade in einer komplexen Welt, von technischen Systemen abhängig sind, die nicht notwendig in allen Lebens­lagen funktionieren müssen, sodass wir mög­licher­weise angestrebte Effizienzverhältnisse zugunsten von Resi­lienz und Redundanz auf kluge Weise zurückbauen müssen; (6) dass Menschen körperliche Wesen und diese Körper Teil der Natur, in evolutiver Konkurrenz zu anderen Lebe­­wesen, sind, sodass wir uns aus dieser bio­logi­schen Sphäre nicht (durch angeblich vor der Tür stehendes Human Enhancement) hinausstehlen können; (7) dass die Selbstzuschreibung einer Meisterung der Welt, diese anthropozentrische Perspektive, eine fehlerhafte Einschätzung gewesen ist und wieder ein bisschen be­schei­dener formuliert werden muss.
Das ist weder Romantisierung noch Retro-Ideologie. Viel­leicht sind wir da oder dort ein wenig über das Ziel geschossen, jedenfalls in unseren Erwartungen. Unter den gegebenen Verhältnissen können wir uns nur mit Versuch und Irrtum vorantasten. Aber aus der Epidemie, die uns noch Jahre beschäftigen wird, können wir lernen, wie wir mit den kommenden Krisen, wie sie etwa im ökologischen Bereich, im Cyberwar oder im Blackout auftreten werden, umgehen können.


Über Manfred Prisching

Universitätsprofessor für Soziologie an der Universität Graz. Auslands­aufenthalte in Maastricht, an der Harvard University und an den Uni­versitäten von New Orleans, Little Rock, Las Vegas. 1997 bis 2001 wissen­schaftlicher Leiter der FH Joanneum, Korr. Mitglied der Öster­reichi­schen Akademie der Wissenschaften, Mitglied des Öster­reichi­schen Wissen­schaftsrates. Autor zahlreicher Bücher und Publi­ka­tionen. [Foto: © Christian Jungwirth]