2021 – Kurt Scholz


// Brav, stabil und mutlos //

Fragt man im zwischenmenschlichen Bereich, in „welcher Verfassung“ jemand sei, schwingt damit unwillkürlich eine Sorge mit. „In welcher Verfassung hast du ihn angetroffen?“ oder „Vor einigen Wochen war sie noch in guter Ver­fas­sung“ sind gängige Redensarten. Erkundigt man sich nach „der Verfassung“ von Sportlern, schwingt mehr mit: die Hoffnung auf eine Spitzenleistung. Wenn David Alaba oder Dominic Thiem „in guter Verfassung“ sind, fordert der Nationalstolz, dass sie unter die besten Vier, Acht oder zumindest Sechzehn kommen. Die Erwartung ist also, dass jemand, der in guter Verfassung ist, erfolgreich mit den Besten wetteifert.
Womit wir beim Problem sind: Niemand leugnet, dass Österreich in einer stabilen Verfassung ist. Die Frage ist: Was machen wir daraus? Wo zählen wir zu den Besten?
Nostalgiker erinnern sich an die Zeiten einer öster­reichi­schen Spitzenmedizin. Andere schwärmen vom Ansehen der liberalen „Wiener Schule“ der Nationalökonomie. Gödel, Wittgenstein, Popper, Freud sind international be­wunderte Größen. Sie stammen allesamt aus dem ver­gangenen Jahrhundert.
Würde ich heute um drei Begriffe zur Verfassung Öster­reichs gefragt, fiele mir ein: brav, stabil und mutlos. Es gab Zeiten, in denen die österreichische Diplomatie weltweit beachtet, die Sozialpolitik international bewundert und unser Land für seinen Interessenausgleich zwischen den Wirtschafts­partnern als Vorbild gesehen wurde. Heute ist die Spitzen­forschung zwar vorhanden, aber man muss sie suchen. Das Sozialsystem ist elastisch, aber es klaffen Löcher. Der öffentliche Diskurs ist selten wirk­lich konstruktiv, der politische Wettbewerb häufig destruktiv, die Rolle der Religionsgemeinschaften oder der Gewerkschaften verblasst. Sucht man neue Denkansätze, muss man internationale Zeitungen lesen. Das Wort „Provinz“ drängt sich auf, aber immerhin ist es in der Pro­vinz ja gemütlich. Nicht „We can do it!“ ist das Motto, sondern „We could do it…“.
Gerd Bacher, der große, leidenschaftliche, fortschrittliche Konservative, hat einmal über Österreich gesagt: „Bei uns ist der Durchschnitt der Plafond.“ Mehr fällt mir nicht ein.


Über Kurt Scholz

Studium der Geschichte und Germanistik, anschl. Tätigkeit als Gym­na­sial­professor und in der Erwachsenenbildung. Ehem. Abteilungs­leiter im Bundesministerium für Unterricht und Kunst, Präsident des Wiener Stadtschulrates und Sonderbeauftragter für Restitutions- und Zwangs­arbeiterfragen der Stadt Wien. 2011 bis 2019 Vorsitzender des Zukunfts­fonds der Republik Österreich.