2021 – Caroline Schober


// Und, wer übernimmt Ihre Verantwortung? //

Die Pandemie-Krise wirkte wie ein Vergrößerungsglas – auf menschliche Qualitäten und Unzulänglichkeiten, per­sön­liche und kollektive gleichermaßen. Wir hatten es ja schon geahnt, aber die Fähigkeit zur Differenziertheit und Ver­hältnis­mäßigkeit in der Anpassung an Situationen gehört wohl nicht zu den intrinsischen Urqualitäten des Men­schen. Es scheint nicht viel zu geben zwischen Schnupfen und Ebola, zwischen Shutdown einerseits und Sorg- und Zügellosigkeit andererseits. Schwarz-Weiß, die Schattierungen dazwischen fallen so schwer. Shades of Gray ist offenbar nur mehr etwas für Schundromane und ebensolche Filmchen. Die feinen Nuancen, die Zwischen­töne scheinen sperrig, unhandlich, wenig intuitiv.
Die goldene Mitte ist ja schon längst als fauler Kompromiss in Verruf geraten, da bedarf es keiner Pandemie. Und faule Kompromisse gab und gibt es unzweifelhaft zuhauf. Doch darf Positionierung nicht nur an den Extremen möglich sein, populistische Überspitzung zum Synonym für Profil werden. Differenziertheit bedeutet nicht Farblosigkeit, auch wenn sie weniger greifbar, weniger schnell konsumier- und anwendbar, schlechter verdaubar und – seien wir ehrlich – auch manchmal verdammt mühsam ist.
„Situationselastisch“, das Wort des Jahres 2014. Das sind wir aktuell für mein Dafürhalten oft zu wenig. Alle wollen rasches Handeln, aber gleichzeitig in einer Situation, in der sich täglich alles ändert, schon drei Monate im Vor­hinein fixe Regelungen und Zusagen. Kristallkugeln als Prognose­werkzeuge sind auch in der Politik nicht omnipräsent – und würden als kritische Infrastruktur allemal taugen. Der Spagat zwischen Anpassung und nicht Hängenlassen will ge­schafft werden. Redliches Bemühen und Professionalität darf man zurecht und vehement fordern, Hellsehen mit Eintrittsgarantie ist dann vielleicht doch etwas viel verlangt.
Kandidaten für das aktuelle Wort des Jahres? Ich werfe „Selbst­verant­wortung“ ins Rennen. Sehr hilfreich hierfür: der gesunde Menschenverstand und dessen kleiner Bruder, der Hausverstand. Letzteren gibt es im Lebens­mittel­einzel­handel leider schon seit einigen Jahren nicht mehr zu erwerben, ein schweres Versäumnis. Denn abseits von Kant, Hegel und Co geht es auch profaner und doch direkt in Schwarze: Charlie Brown meinte zu seinem Hund Snoopy, dass er gehört habe, der gesunde Menschenverstand wäre in der Krise unsere wichtigste Waffe. Der Prophet und weise Menschenkenner Snoopy sieht den Untergang nahen: „Oh nein, die meisten von uns sind unbewaffnet!“ Den Menschenverstand würden wir aber doch dringend benötigen – unabhängig von Covid-19 für all die schwerwiegenden und drängenden nationalen und globalen Herausforderungen.
Ich erinnere mich gut an einen meiner Chemieprofessoren, der Studierende zu fragen pflegte: Und, wo lassen Sie denken? In Analogie dazu ließe sich fragen: Und, wer über­nimmt Ihre Verantwortung?


Über Caroline Schober

Chemikerin und Molekularbiologin. Als Marketing und Change Manage­ment Consultant in Projekten in den USA und China im Bereich Industrie­mineralien tätig. Nach mehrjährigen Erfahrungen im Forschungs­management 2011 bis 2016 Managerin des Instituts für Mole­kulare Biowissenschaften der Universität Graz. Seit 2016 Vize­rektorin für Forschung und Internationales an der Medizinischen Uni­ver­sität Graz.