2021 – Gerhard Jandl


// Menschenrechte auf der Corona-Intensivstation? //

Wer die Freiheit für die Sicherheit opfert, wird beides ver­lieren. Selten war der Spruch so relevant wie zu Zeiten der Corona-Maß­nahmen. Selten war die Bevöl­kerung vielerorts so verunsichert, dass sie Freiheitsbeschränkungen willig hinnahm. Selten war die Gelegenheit für manche Macht­haber so verlockend, dies zum Machtausbau auszunutzen. Die Politik maßt sich alles an, die Medien überdrehen, Intellektuelle stimmen mit ein und realistische Gegenstimmen bleiben auf der Strecke, spitzte die NZZ zu.
Zahlreiche Corona-Maßnahmen greifen massiv in die von der Europäischen Menschen­rechts­konvention garan­tierten Grundrechte ein: Versammlungsverbote in die Ver­samm­lungs- und die Religionsfreiheit, Ausgeh-, Besuchs- und Reiseverbote in die Freizügigkeit und das Recht auf Familien­leben, Schul- und Unischließungen in jenes auf Bil­dung, Betriebssperren in die Eigentums- und Erwerbs­freiheit, und die (wie es die Europarats-General­sekretärin ausdrückte) information control in die Meinungs- und Pressefreiheit.
EU-Vertreter und v.a. der Europarat als Menschenrechts-Watchdog sahen sich zur Mahnung veranlasst, dass solche Maß­nahmen gegenüber der Verpflichtung zum Lebens- und Gesundheitsschutz vernünftig abgewogen werden müssen, und dass die Einschränkungen gemäß EMRK nur zulässig sind, wenn sie eine korrekte gesetzliche Basis haben, zur konkreten Gefahrenbekämpfung un­erläss­lich sind, die Verhältnismäßigkeit beachten und mit den Grundregeln einer demokratischen Gesellschaft vereinbar sind. Traurig, dass manche Länder erinnert werden mussten, dass bestimmte Grundrechte (Gleich­heits­grund­satz, Diskriminierungs­verbot, Verbot unmenschlicher Behandlung, rechtsstaatliche Standards) laut EMRK nie­mals, auch nicht in Notsituationen, ausgesetzt werden dürfen. Traurig ferner, dass die zuständigen Organisationen betonen mussten, dass Notstandsgesetzgebung demo­kratie­politisch problematisch ist und zeitlich wie inhaltlich auf ein absolutes Mindestmaß beschränkt zu bleiben hat.
Wie dauerhaft die Menschenrechtspraxis beeinträchtigt und wie nachhaltig neben der Gesundheit und dem Leben vieler auch die Grundwerte der freien Gesellschaft zerstört wurden, wird erst langfristig zu sehen sein.


Über Gerhard Jandl

Jus- und Volkswirtschaftsstudium in Wien und Graz. Seit 1986 im Diplomatischen Dienst, Verwendungen an den Botschaften Kairo und Tunis und an der UNO-Vertretung New York. Leiter des Balkan­referats im Außen­amt, Botschafter in Sarajewo und in Belgrad, Sicher­heits­politischer Direktor im Außenamt. Seit 2018 Botschafter beim Europarat in Straßburg.