// 100 Jahre Bundesverfassung – das Immunsystem gegen Gefährdungen der Demokratie stärken! //
Am 1. Oktober 2020 feierte das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz sein 100-jähriges Jubiläum. Bereits die ersten 25 Jahre der Bundesverfassung waren sehr bewegt. Im Jahr 1929 änderte man die Verfassung entscheidend, Wahl und Stellung des Bundespräsidenten sowie Organisation und Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes sind zwei Beispiele. Diese Novelle stabilisierte jedoch die politische Lage nicht. 1933 kam es zur Ausschaltung des Parlaments und des Verfassungsgerichtshofes; der weitere Weg in die Katastrophe des Nationalsozialismus ist allgemein bekannt. 1945 war das Jahr der Wiedereinrichtung des demokratischen Rechtsstaats, mit der Verfassung von 1920 (in der Fassung von 1929) wurde neu begonnen.
Das letzte Viertel des ersten Jahrhunderts der Bundesverfassung begann 1995 mit dem EU-Beitritt, der mit der größten Verfassungsänderung in der Geschichte verbunden ist. In den folgenden Jahren wurde die Verfassung immer wieder zum Besseren geändert und ergänzt, etwa in Bezug auf die Regelung der Frage zweisprachiger Ortstafeln in Kärnten im Volksgruppengesetz oder die Schaffung unabhängiger Gerichte für die Bekämpfung von Verwaltungsakten.
In den 50 Jahren zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und 1995 entwickelte sich eine spezifisch österreichische Verfassungskultur. Aus verfassungsrechtlicher Sicht sticht der Staatsvertrag 1955 hervor, der selbst Verfassungsrecht ist und mit dem Neutralitätsverfassungsgesetz in Verbindung steht. Er stellte nicht nur die Unabhängigkeit Österreichs wieder voll her, sondern ist bis heute eine rechtliche Stütze für Demokratie, Menschenrechte und den Minderheitenschutz. Die zweite Besonderheit österreichischer Verfassungskultur sind die Grund- und Menschenrechte geworden. 1958 trat Österreich der Europäischen Menschenrechtskonvention bei, 1964 wurde diese in die Verfassung aufgenommen – ein damals europaweit einzigartiger Schritt.
Österreich ist ein demokratischer Rechtsstaat und baut auf einer effektiven Verfassung auf, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit sind die Basis. Grund- und Freiheitsrechte sichern eine liberale Gesellschaftsordnung. Demokratische Wahlen und Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament geben dem Staat Legitimität. Gesetze müssen der Verfassung entsprechen, Regierungs- und Verwaltungsakte müssen gesetzmäßig sein. Das ist der Kern des Legalitätsprinzips und des weiteren Rechtsstaatsprinzips der Bundesverfassung. In einem modernen Verfassungsstaat dürfen Bürgerinnen und Bürger auf ein berechenbares staatliches Handeln vertrauen, in dem die Rechte der Menschen respektiert werden.
Der Schutz der Freiheit des Einzelnen wird auf der Ebene der Verfassungen durch die Grundrechte garantiert. Die Katastrophe des Nationalsozialismus führte zur Einsicht, dass den einzelstaatlichen Grundrechten internationale Menschenrechte zur Seite gestellt werden müssen. Bestimmte Menschenrechte sollten dem nationalen Gesetzgeber entzogen sein; diese Unverfügbarkeit durch die nationale Politik macht die Menschenrechte aus. Ein Kern davon gilt heute als zwingendes Völkerrecht. Österreich verpflichtete sich im Staatsvertrag 1955 zur Menschrechtsidee und holte kurz darauf die Europäische Menschenrechtskonvention in die Verfassung.
Voraussetzungen für die Sicherung der Grund- und Menschenrechte sind Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Der große österreichische Jurist Hans Kelsen beschreibt den Zusammenhang in seinem Werk „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ aus dem Jahr 1920 so: Die Freiheit des Einzelnen wird am besten dadurch gesichert, dass dieser in der parlamentarischen Demokratie an der Erzeugung der Gesetze beteiligt wird. Gesetze, die das Zusammenleben der Menschen und damit die Abgrenzung von Freiheitssphären regeln und den Menschen- und Bürgerrechten entsprechen. Ihnen kommt die Funktion des Minderheitenschutzes zu.
In der Bundesverfassung sind Demokratie und Rechtsstaat „Verfassungsprinzipien“ oder „Baugesetze“, für deren Änderung es neben einer Zweidrittelmehrheit im Parlament auch einer Volksabstimmung bedarf. In 100 Jahren gab es genau eine solche Totaländerung: 1995 beim EU-Beitritt. Dass es innerhalb des Verfassungsrechts besonders wichtige Inhalte gibt, die nur von Parlament und Volk gemeinsam geändert werden können, ist eine besondere Qualität der Bundesverfassung und eine zusätzliche Sicherung für die Rechte der Menschen. Grundrechte sowie die verfassungsgerichtlichen Verfahren, in denen diese geltend gemacht werden können, dienen dem Minderheitenschutz. Angehörige von Minderheiten haben ein Recht auf Zugang zu einem unabhängigen Gericht. Wenn der Verfassungsgerichtshof ein Gesetz aus dem Blickwinkel der Grundrechte überprüft, fragt er nach der Übereinstimmung mit den verfassungsrechtlichen Schranken für die Freiheitsbeschränkung. Er geht von einem rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers aus und vergewissert sich, ob die Rechtfertigungsgründe aus den Vorgaben der Bundesverfassung ableitbar sind. Der Verfassungsgerichtshof nimmt Abwägungen vor. Verhältnismäßig und verfassungskonform ist ein Grundrechtseingriff durch das Gesetz dann, wenn das Gewicht der Gründe für eine Beschränkung die Nachteile aus der Beschränkung überwiegt. Dabei schafft die Verfassung die Voraussetzung dafür, dass nicht ein bestimmtes Weltbild die Entscheidungen dominiert. In den verfassungsrechtlichen Grundlagen für die personelle Zusammensetzung des Verfassungsgerichtshofes ist vorgesehen, dass ein für Gerichte ungewöhnlich großes Kollegium von 14 Personen entscheidet. Vorschläge für neue Richter sind von drei verschiedenen Organen zu erstatten – Nationalrat, Bundesrat, Bundesregierung. Dadurch wird eine Vielfalt von Anschauungen im Richterkollegium abgebildet. Durch den Dialog mit den Verfahrensparteien, aber auch mit den europäischen Gerichten und dann im Verfassungsgerichtshof selbst werden die Abwägungen inhaltlich aufgefüllt.
Für die Bevölkerung, also jene Menschen, derentwegen die Verfassung erlassen und die Grundrechte dort verankert wurden, wird der Schutz der Rechte durch punktuelle Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes, vor allem aber durch die Umsetzung in Gesetzen, Verordnungen und sonstigen Einzelentscheidungen sichtbar. In diesen Entscheidungen und Umsetzungsakten kommt die Kultur der Verfassung zum Ausdruck, wenn politisches Handeln am Recht ausgerichtet ist, die Regierung verfassungsrechtliche Verfahren und das parlamentarisch beschlossene Gesetz achtet, der Gesetzgeber die Grundrechte wahrt.
Die österreichische Bundesverfassung erwies sich über die Jahrzehnte als erstaunlich leistungsfähig, darauf kann man stolz sein. Ein bescheidener Stolz ist die Grundlage für zwei Aufgaben der Zivilgesellschaft: das Immunsystem der Verfassung gegen Gefährdungen der Demokratie zu stärken und das Bewusstsein für die Verletzlichkeit der liberalen Demokratie wach zu halten.