2021 – Christoph Grabenwarter


// 100 Jahre Bundesverfassung – das Immunsystem gegen Gefährdungen der Demokratie stärken! //

Am 1. Oktober 2020 feierte das österreichische Bundes-Ver­fassungs­gesetz sein 100-jähriges Jubiläum. Bereits die ersten 25 Jahre der Bundesverfassung waren sehr bewegt. Im Jahr 1929 änderte man die Verfassung ent­scheidend, Wahl und Stellung des Bundespräsidenten sowie Organisation und Zusammensetzung des Ver­fas­sungs­gerichtshofes sind zwei Beispiele. Diese Novelle stabilisierte jedoch die politische Lage nicht. 1933 kam es zur Ausschaltung des Parlaments und des Ver­fassungs­gerichtshofes; der weitere Weg in die Katastrophe des Nationalsozialismus ist allgemein bekannt. 1945 war das Jahr der Wiedereinrichtung des demokratischen Rechts­staats, mit der Verfassung von 1920 (in der Fassung von 1929) wurde neu begonnen.
Das letzte Viertel des ersten Jahrhunderts der Bundes­ver­fassung begann 1995 mit dem EU-Beitritt, der mit der größten Ver­fassungs­änderung in der Geschichte ver­bunden ist. In den fol­gen­den Jahren wurde die Ver­fassung immer wieder zum Besseren geändert und ergänzt, etwa in Bezug auf die Regelung der Frage zweis­prachiger Orts­tafeln in Kärnten im Volks­­gruppen­gesetz oder die Schaffung unabhängiger Gerichte für die Bekämpfung von Verwaltungsakten.
In den 50 Jahren zwischen dem Ende des Zweiten Welt­kriegs und 1995 entwickelte sich eine spezi­fisch öster­reichische Verfassungskultur. Aus ver­fassungs­recht­licher Sicht sticht der Staatsvertrag 1955 her­vor, der selbst Ver­fassungsrecht ist und mit dem Neu­tralitäts­ver­fassungs­­gesetz in Verbindung steht. Er stellte nicht nur die Unabhängigkeit Österreichs wieder voll her, sondern ist bis heute eine rechtliche Stütze für Demokratie, Men­schen­rechte und den Minderheitenschutz. Die zweite Besonderheit österreichischer Verfassungskultur sind die Grund- und Menschenrechte geworden. 1958 trat Österreich der Europäischen Menschenrechtskonvention bei, 1964 wurde diese in die Verfassung aufgenommen – ein damals europaweit einzigartiger Schritt.
Österreich ist ein demokratischer Rechtsstaat und baut auf einer effektiven Verfassung auf, Gewaltenteilung und Rechts­staatlichkeit sind die Basis. Grund- und Frei­heits­­rechte sichern eine liberale Gesellschaftsordnung. Demokratische Wahlen und Verantwortlichkeit der Regie­rung gegenüber dem Parlament geben dem Staat Legi­­timität. Gesetze müssen der Verfassung entsprechen, Regierungs- und Verwaltungsakte müssen gesetzmäßig sein. Das ist der Kern des Legalitätsprinzips und des weiteren Rechts­staats­prinzips der Bundesverfassung. In einem modernen Verfassungsstaat dürfen Bürgerinnen und Bürger auf ein berechenbares staatliches Handeln ver­trauen, in dem die Rechte der Menschen respektiert werden.
Der Schutz der Freiheit des Einzelnen wird auf der Ebene der Verfassungen durch die Grundrechte garantiert. Die Katastrophe des Nationalsozialismus führte zur Einsicht, dass den einzelstaatlichen Grundrechten internationale Menschenrechte zur Seite gestellt werden müssen. Bestimmte Menschenrechte sollten dem nationalen Gesetz­geber entzogen sein; diese Unverfügbarkeit durch die nationale Politik macht die Menschenrechte aus. Ein Kern davon gilt heute als zwingendes Völkerrecht. Österreich verpflichtete sich im Staatsvertrag 1955 zur Menschrechtsidee und holte kurz darauf die Europäische Menschenrechtskonvention in die Verfassung.
Voraussetzungen für die Sicherung der Grund- und Menschen­rechte sind Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Der große österreichische Jurist Hans Kelsen beschreibt den Zusammenhang in seinem Werk „Vom Wesen und Wert der Demokratie“ aus dem Jahr 1920 so: Die Frei­heit des Einzelnen wird am besten dadurch gesichert, dass dieser in der parlamentarischen Demokratie an der Er­zeugung der Gesetze beteiligt wird. Gesetze, die das Zu­sammen­leben der Menschen und damit die Abgrenzung von Freiheitssphären regeln und den Menschen- und Bürger­rechten entsprechen. Ihnen kommt die Funktion des Minder­heitenschutzes zu.
In der Bundesverfassung sind Demokratie und Rechtsstaat „Verfassungsprinzipien“ oder „Baugesetze“, für deren Änderung es neben einer Zweidrittelmehrheit im Parla­ment auch einer Volksabstimmung bedarf. In 100 Jahren gab es genau eine solche Totaländerung: 1995 beim EU-Beitritt. Dass es innerhalb des Verfassungsrechts be­­sonders wichtige Inhalte gibt, die nur von Parlament und Volk gemeinsam geändert werden können, ist eine besondere Qualität der Bundesverfassung und eine zu­sätz­liche Sicherung für die Rechte der Menschen. Grundrechte sowie die verfassungsgerichtlichen Ver­fahren, in denen diese geltend gemacht werden können, dienen dem Minderheitenschutz. Angehörige von Minder­heiten haben ein Recht auf Zugang zu einem un­ab­hängigen Gericht. Wenn der Verfassungsgerichtshof ein Gesetz aus dem Blickwinkel der Grundrechte über­prüft, fragt er nach der Übereinstimmung mit den ver­fassungs­rechtlichen Schranken für die Frei­heits­be­schränkung. Er geht von einem rechtspolitischen Gestal­tungs­spielraum des Gesetzgebers aus und ver­ge­wissert sich, ob die Rechtfertigungsgründe aus den Vorgaben der Bundesverfassung ableitbar sind. Der Ver­fassungs­gerichtshof nimmt Abwägungen vor. Verhältnismäßig und verfassungskonform ist ein Grundrechtseingriff durch das Gesetz dann, wenn das Gewicht der Gründe für eine Be­schränkung die Nachteile aus der Beschränkung überwiegt. Dabei schafft die Verfassung die Voraussetzung dafür, dass nicht ein bestimmtes Weltbild die Ent­schei­dungen dominiert. In den verfassungsrechtlichen Grundlagen für die personelle Zusammensetzung des Ver­fassungsgerichtshofes ist vorgesehen, dass ein für Gerichte ungewöhnlich großes Kollegium von 14 Personen entscheidet. Vorschläge für neue Richter sind von drei verschiedenen Organen zu erstatten – Nationalrat, Bundes­rat, Bundesregierung. Dadurch wird eine Vielfalt von An­schauungen im Richterkollegium abgebildet. Durch den Dialog mit den Verfahrensparteien, aber auch mit den europäischen Gerichten und dann im Ver­fassungs­gerichtshof selbst werden die Abwägungen inhaltlich auf­gefüllt.
Für die Bevölkerung, also jene Menschen, derentwegen die Verfassung erlassen und die Grundrechte dort ver­ankert wurden, wird der Schutz der Rechte durch punk­tu­elle Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes, vor allem aber durch die Umsetzung in Gesetzen, Ver­ordnungen und sonstigen Einzelentscheidungen sichtbar. In diesen Entscheidungen und Umsetzungsakten kommt die Kultur der Verfassung zum Ausdruck, wenn politisches Handeln am Recht ausgerichtet ist, die Regierung ver­fassungs­rechtliche Verfahren und das parlamentarisch be­schlossene Gesetz achtet, der Gesetzgeber die Grund­rechte wahrt.
Die österreichische Bundesverfassung erwies sich über die Jahrzehnte als erstaunlich leistungsfähig, darauf kann man stolz sein. Ein bescheidener Stolz ist die Grundlage für zwei Aufgaben der Zivilgesellschaft: das Immunsystem der Verfassung gegen Gefährdungen der Demokratie zu stärken und das Bewusstsein für die Verletzlichkeit der liberalen Demokratie wach zu halten.


Über Christoph Grabenwarter

Studien der Rechtswissenschaften und Handelswissenschaft. Uni­ver­si­tätsprofessor für öffentliches Recht an den Universitäten Bonn, Graz und Wien. 2014 bis 2020 Ausschussmitglied für die Wahl der Richter des EuGH für Menschenrechte. Seit 2005 Mitglied des Ver­fassungs­gerichts­hofes sowie seit 2006 der Venedig-Kommission des Europa­rates. 2018 bis 2020 Vizepräsident und seit Februar 2020 Präsident des Ver­fassungs­gerichtshofes.