2021 – Brigitte Bierlein


// Für einen sachorientierten Diskurs //

„In welcher Verfassung ist Österreich?“ – eine ent­schei­dende und niemals final beantwortbare Frage. Auch im Lichte mancher Kritik­punkte und immer wieder neu auf­tauchender, nicht antizipierbarer Herausforderungen, kann man diese Frage berechtigt mit „in ziemlich guter“ beantworten. Das gilt sowohl in international ver­gleichen­der Betrachtung als auch mit Blick auf die Ent­wicklung in den letzten Jahrzehnten.
Österreich gehört zu den wohlhabendsten und prospe­rierendsten Staaten der Welt und – viel wichtiger – unser Land ist eine resiliente, vitale Demokratie, die auf dem Fundament eines liberalen Rechtsstaates, einem starken Sozialstaat und einer offenen Gesellschaft aufbaut. Das sind keine Selbstverständlichkeiten, sondern sie verlangen ständiges Bemühen, Wachsamkeit, Reflexion, Zivilcourage und entschiedenes Eintreten für diese grundlegenden Errungenschaften und Werte.
Die österreichische Bundesverfassung ist unabdingbare Voraussetzung für unser Leben in Frieden und Freiheit. Sie hat sich gerade in schwierigen Ausnahmesituationen der letzten Jahre bestens bewährt. Aber der Verfassung kann nur dann voll entsprochen werden, wenn alle ver­fassungs­gemäß berufenen Organe und Akteure be­sonnen und verantwortungsbewusst im Sinne des Ge­mein­wohls handeln. Auch die Entscheidungen des Ver­fassungs­gerichts­hofes in wichtigen sensiblen Fragen möchte ich hervorheben.
Für uns als Demokraten ist es imperativ, dass die schwieri­gen Fragen unserer Zeit im konstruktiven Geist mit Sorgfalt erörtert werden; denn es sind rechtlich, politisch und ethisch komplexe Spannungsfelder. Die Digitali­sierung als Megatrend mit ihrem tiefgreifenden Einfluss auf alle Bereiche der Gesellschaft führt zu dringlichen Fragen und notwendigen Abwägungen. Darunter beispielsweise die Abwägung zwischen Grundrechten, etwa dem Schutz der Privatsphäre – insbesondere in Zeiten von sozialen Medien – einerseits und öffentlichen Interessen an Information oder an Gesundheit andererseits.
Aber auch seit Jahrzehnten bekannte Diskussionsthemen haben neue Aktualität erhalten. Der Staat, die öffentliche Verwaltung und die Justiz sind ebenfalls dazu angehalten, bestehende Prozesse anzupassen und zu optimieren. Die oberste Prämisse muss stets Transparenz, Unabhängigkeit und der Dienst an den Menschen sein.
Es liegt in unser aller Interesse, den Diskurs in allen Be­reichen, sei es Digitalisierung, Klimaschutz, Migration und Inte­gration oder Pandemiebekämpfung, sach­orientiert, vor­urteils­frei und ergebnisoffen zu führen. Die gute Ver­fas­sung unseres Landes hängt von jeder und jedem Einzelnen ab. Die dritte Konferenz „Österreich 22“ möge in diesem Sinne wichtige Impulse setzen!


Über Brigitte Bierlein

Juristin, ehemalige Verfassungsrichterin und Politikerin. 2003 bis 2018 Vizepräsidentin des Verfassungsgerichtshofs der Republik Österreich, anschließend dessen Präsidentin (als erste Frau in Österreich). Von 3. Juni 2019 bis 7. Jänner 2020 Bundeskanzlerin der Republik Österreich und damit auch die erste Frau in diesem Amt. [Foto: © BKA Andy Wenzel]