2021 – Barbara Frischmuth


// Ohnmacht überwinden //

Das Wort Verfassung hat, wie viele andere Wörter, mehrere Bedeutungen: eine als wichtigstes juridisches Regel­werk eines Staates, aber auch die einer eher passiven physi­schen und psychischen Verfasstheit, die wörtlich auf die aktive Rolle eines Verfassers, einer Verfasserin verweist. Wie schön oder nicht schön unsere gesetzeskräftige Ver­fassung auch sein mag, sie ist in Paragraphen fest­ge­setzt und hat nur einen beschränkten Spielraum für unter­schied­liche Interpretationen. Als Schriftstellerin sehe ich mich demgemäß als Verfasserin mit einem weitaus offener gerahmten Raum für Wahrnehmungen, Erfahrungen, Er­geb­nisse und deren Interpretation beziehungsweise der Kritik an ihnen.
Covid-19 hat uns gelehrt, wie rasch im Notfall Verän­derungen unserer Lebensweisen anstehen können, warum nützen wir diese Erfahrung nicht für eine nahe Zukunft? Covid-19 ist, wie ich es sehe, nur ein Symptom der großen Veränderungen, die unsere Lebensweisen durch Klima­­wandel, Missbrauch an Ressourcen, Aussterben von Arten durch menschliches Verhalten, Zubetonierung von Anbauflächen – mit einem Wort: Beschädigung von lebenswichtigen Kreisläufen, die rechtzeitig zu erkennen durchaus möglich ist – verursachen.
Eine Menschheit, die sich blindlings im Materiellen er­schöpft und im übertragenen Sinn des Wortes bedenken­los immer mehr, das heißt zu viel, zu und an sich nimmt, um es danach auf sämtlichen Mülldeponien – sei es auf dem Festland oder in sämtlichen Gewässern dieser Erde – auszuscheiden, wird nie und bei nichts genug kriegen. Ja, wir sind alle Konsumenten, aber die Frage ist, wie lange dieser Planet uns als Unveränderte aushalten wird.
Wenn man wie ich seit Jahrzehnten wieder in der soge­nannten Provinz lebt, nimmt man gewisse Vorboten der großen Veränderungen wahrscheinlich im Detail etwas schneller wahr, weil sie sich vor den eigenen Augen vollziehen, ohne den Ablenkungsmodus einer Großstadt.
Der vor kurzem verstorbene Alfred Kolleritsch hat in seinem Roman „Der letzte Österreicher“ schon vor Jahren und mit schmerz­licher Radikalität versucht, die an­schwellen­den Probleme zu Bewusstsein zu bringen, indem er einer seiner Figuren folgenden Satz in den Mund legte: „Ohnmacht, ausgesprochene, hinausgebrüllte Ohnmacht ist die Intelligenz der Provinz. In ihr erwacht die Erinnerung. Wer sie nicht hat, ist ausgestorben.“
Woran liegt diese Ohnmacht? An wem sonst sollte sie den liegen, wenn nicht an uns?


Über Barbara Frischmuth

Dolmetsch-Studium für Türkisch und Ungarisch in Graz, Erzurum und Debrecen. Danach Studium der Orientalistik in Wien (ohne Abschluss). Lebt seit den 1990er Jahren als freie Schriftstellerin wieder im Geburts­ort Altaussee. Erzählungen, Hörspiele, Romane, darunter „Über die Ver­hältnisse“ 1987, „Die Schrift des Freundes“ 1998, „Woher wir kommen“ 2012, „Verschüttete Milch“ 2019 oder „Der Schatten tanzt in der Küche“ 2021. [Foto: © Monika Löff]