2018 – Gerhard Jandl


Ja, lebt denn der alte Europarat noch?
Europarat, Europäischer Rat, Rat der Europäischen Union – die Verwirrung mit den europäischen Institutionen ist nicht nur in der Öffentlichkeit groß, auch Insider verheddern sich. Da die politische Einigung eines freien Europas – Hauptmotivation der Gründung des Europarates 1949 – heute in erster Linie von und in der EU vorangetrieben wird, fragt sich, ob der Europarat überhaupt noch gebraucht wird bzw. was sein über die EU hinausgehender Mehrwert sein kann.
Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit sind das Kerngeschäft des Europarates, bei dem Österreich mit Lujo Tončić-Sorinj, Franz Karasek und Walter Schwimmer dreimal den Generalsekretär gestellt hat, und der heute (fast) alle Staaten des Kontinents umfasst, inklusive Russland und der Türkei. Die Europäische Menschenrechtskonvention EMRK (die kein EU-, sondern ein Europaratsvertrag ist) und der Straßburger Menschenrechtsgerichtshof EGMR, an den sich jeder Bürger wenden kann und dessen Urteile für die Mitgliedstaaten verbindlich sind, sind die bekanntesten Erscheinungsformen des zentralen menschenrechtlichen Wirkens.
Das Spezielle am Europarat: Erstens erstreckt er sich nicht nur auf die EU-Staaten, sondern de facto auf ganz Europa inklusive „schwieriger“ Mitglieder wie Russland, Türkei und die Kaukasus-Länder. Zweitens unterwerfen sich die Mitgliedstaaten besonderen, juristisch verbindlichen Standards sowie strengen Überprüfungsmechanismen. Diese Standards sind höher und die Mechanismen schärfer als in jeder anderen Weltregion. Neben der EMRK sprechen wir vom Verbot der diskriminierenden Behandlung, der Bekämpfung von Korruption, der Gleichbehandlung von Frauen, dem Schutz der Kinderrechte und jenem nationaler und sprachlicher Minderheiten, der Verhinderung von Menschenhandel und Datenmissbrauch u.v.a.m.
Diese Verpflichtungen inklusive der Überwachungsmechanismen sind manchen Staaten lästig. Aber gerade darin besteht der Mehrwert des Europarates: Man unterwirft sich rigorosen Rechtspflichten und ist sich als Staat auch nicht zu gut, sich überprüfen und in aller Öffentlichkeit kritisieren zu lassen, ohne dass man sich auf souveränistische Formeln wie „Das dürft ihr nicht, das fällt unter innere Angelegenheiten“ oder „Ihr dürft nur kontrollieren, wenn wir ausdrücklich zustimmen“ zurückziehen kann.
Daher sollte der Europarat in genau diesen Bereichen noch stärker tätig werden, er sollte den Staaten im Interesse der Bevölkerung noch „lästiger“ fallen, gerade in Zeiten des Wiedererstarkens von autoritären Strömungen und des Ignorierens der Spielregeln durch die Mächtigen gewisser Länder.
Wenn der Europarat diese Rolle in seinen Kerngebieten Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wahrnimmt und verstärkt, dann wird er gebraucht. Dann kann er entscheidend zur Entwicklung demokratischerer, partizipativerer Gemeinwesen mit effizientem Rechtssystem und emanzipierter Zivilgesellschaft beitragen. Nicht umsonst heißt es, dass es beim Europarat um die Bürger geht, und nicht um die Regierungen. Er ist die „bürgerlichste“ aller internationalen Organisationen.


Über Gerhard Jandl

Jus- und Volkswirtschaftsstudium in Wien und Graz. Seit 1986 im Diplomatischen Dienst, Verwendungen an den Botschaften Kairo und Tunis und an der UNO-Vertretung New York. Leiter des Balkan­referats im Außen­amt, Botschafter in Sarajewo und in Belgrad, Sicher­heits­politischer Direktor im Außenamt. Seit 2018 Botschafter beim Europarat in Straßburg.