Neue Psychoanalyse und Aufklärung
Nicht nur Österreich muss sich der großen Frage stellen, wie gesellschaftlicher und technologischer Wandel stattfinden können, ohne ein kollektives Gefühl der Verunsicherung und den Verlust der Geborgenheit nach sich zu ziehen.
Fortschritt wird oftmals als Fort-Bewegen von der Menschlichkeit und dem Verlust der Beherrschbarkeit, der Fassbarkeit von Sachverhalten empfunden. Technologische Errungenschaften von Digitalisierung bis Globalisierung eröffnen großartige neue Möglichkeiten, können aber auch missbräuchliche Verwendung finden und Angst auslösen.
Der Ruf nach dem „Schritt zurück“ zur vermeintlich „guten alten Zeit“ ist keine probate Antwort auf dieses Unwohlsein, denn der „Dschinni“ ist aus der Flasche und lässt sich nicht mehr in diese zurückbringen – und dies soll angesichts der Herausforderungen des 21. Jahrhunderts auch gar nicht versucht werden.
Österreich hat die einmalige Chance (und sollte diese auch nützen) im Sinne der Tradition eines Sigmund Freud diese zentralen Fragen der scheinbaren Unvereinbarkeit des allgegenwärtigen Umbruchs durch technologischen Fortschritt und der offensichtlich eingeschränkten Möglichkeit von uns Menschen, diesen im positiven Sinn zu handhaben, aufzugreifen: Nicht um diese Herausforderungen als Symptom zu bekämpfen oder zu verdrängen, sondern vielmehr, um zu lernen, sie in ihrer Genese zu verstehen, probate Lösungen zu erarbeiten, damit umzugehen und sie schlussendlich zu bewältigen.
Diese „neue Psychoanalyse und Aufklärung“, getragen von den klügsten Köpfen unseres Landes unterschiedlichster Disziplinen, muss im Kontext der Herausforderungen des allgegenwärtigen Umbruchs Bedacht nehmen auf alle Aspekte und Unzulänglichkeiten der menschlichen Natur mit ihren Bedürfnissen, Ängsten und auch Aggressionen. Nicht nur die fortwährende Forderung nach Fortschritt und Weiterentwicklung muss hierbei Berücksichtigung finden, sondern insbesondere die Herausforderung, dem einzelnen Individuum – aber auch unserer ganzen Gesellschaft – zu helfen, auf der emotional-psychologischen Ebene diesen Wandel mitzutragen. Die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts verlangen es, alle Ressourcen zu mobilisieren: geistiges und kreatives Potenzial, gesellschaftlichen Zusammenhalt, technische und wissenschaftliche Lösungen – dies, um ein Zusammenleben mit möglichst hoher Lebensqualität und in Frieden zu ermöglichen. Österreich hat das Potenzial hierzu.