2016 – Allgemein – Hellmut Samonigg / Caroline Schober-Trummler


Neue Psychoanalyse und Aufklärung

Nicht nur Österreich muss sich der großen Frage stellen, wie gesellschaftlicher und technologischer Wandel statt­finden können, ohne ein kollektives Gefühl der Verun­siche­­rung und den Verlust der Geborgenheit nach sich zu ziehen.

Fortschritt wird oftmals als Fort-Bewegen von der Mensch­lich­­keit und dem Verlust der Beherrschbarkeit, der Fass­bar­keit von Sachverhalten empfunden. Techno­logische Er­rungen­schaften von Digitalisierung bis Globali­sierung er­öffnen großartige neue Möglichkeiten, können aber auch miss­bräuchliche Verwendung finden und Angst auslösen.

Der Ruf nach dem „Schritt zurück“ zur vermeintlich „guten alten Zeit“ ist keine probate Antwort auf dieses Unwohl­sein, denn der „Dschinni“ ist aus der Flasche und lässt sich nicht mehr in diese zurückbringen – und dies soll an­ge­sichts der Heraus­­forderungen des 21. Jahrhunderts auch gar nicht ver­sucht werden.

Österreich hat die einmalige Chance (und sollte diese auch nützen) im Sinne der Tradition eines Sigmund Freud diese zentralen Fragen der scheinbaren Unvereinbarkeit des allgegenwärtigen Umbruchs durch technologischen Fort­schritt und der offensichtlich eingeschränkten Mög­lich­­keit von uns Menschen, diesen im positiven Sinn zu hand­haben, aufzugreifen: Nicht um diese Heraus­for­de­rungen als Symp­tom zu bekämpfen oder zu ver­drängen, sondern viel­mehr, um zu lernen, sie in ihrer Genese zu verstehen, probate Lösungen zu erarbeiten, damit um­zu­gehen und sie schluss­­endlich zu bewältigen.

Diese „neue Psychoanalyse und Aufklärung“, ge­tragen von den klügsten Köpfen unseres Landes unter­schiedlichster Disziplinen, muss im Kontext der Heraus­for­derungen des all­­gegen­wärtigen Umbruchs Bedacht nehmen auf alle Aspekte und Unzulänglichkeiten der men­sch­lichen Natur mit ihren Bedürfnissen, Ängsten und auch Aggres­­sionen. Nicht nur die fort­währende For­derung nach Fort­schritt und Weiter­entwicklung muss hierbei Be­rück­sichtigung finden, sondern insbesondere die Heraus­­­forderung, dem einzelnen Individuum – aber auch unserer ganzen Gesell­schaft – zu helfen, auf der emotional-psycho­logi­schen Ebene diesen Wandel mitzu­tragen. Die Heraus­for­derungen des 21. Jahr­­hunderts verlangen es, alle Res­sourcen zu mobilisieren: geistiges und kreatives Potenzial, gesellschaftlichen Zu­sammen­halt, technische und wissen­schaftliche Lösungen – dies, um ein Zusammen­leben mit mög­lichst hoher Lebens­qualität und in Frieden zu er­mög­­lichen. Österreich hat das Potenzial hierzu.


Über Hellmut Samonigg / Caroline Schober-Trummler

Hellmut Samonigg, Facharzt für Innere Medizin und seit 1992 Universitätsprofessor. Er war Leiter der Klinischen Abteilung für Onkologie sowie der Uni­ver­sitären Palliativmedizinischen Einrichtung an der Medizinischen Uni­versität Graz und von 2003 bis 2008 dort Vizerektor. Er leitete die Organi­sationseinheit zur Entwicklung des MED CAMPUS Graz und ist seit 15. Februar 2016 Rektor der Medizinischen Universität Graz.   Caroline Schober-Trummler, Biochemikerin und Molekularbiologin mit langjähriger Arbeitserfahrung im internationalen Management, etwa in den USA und in China im Bereich Industriemineralien. Von 2011 bis 2016 war sie Managerin des Instituts für Molekulare Biowissenschaften der Karl-Franzens- Universität Graz. Seit 2016 ist sie Vizerektorin für Forschung und Internationales an der Medizinischen Universität Graz. [Fotos: © MED UNI GRAZ]