Die Neutralität als Identitätsmerkmal?
Die österreichische Neutralität wird – in letzter Zeit mancherorts sogar verstärkt – als Merkmal österreichischer Identität bezeichnet und gelegentlich fast mythisch überhöht. Die renommierte Carnegie-Stiftung hat eine „Besessenheit“ der Österreicher von ihrer Neutralität konstatiert, die sie geradezu als eine „säkulare Religion“ ausübten. Demgegenüber sagt etwa die 2013 vom Parlament angenommene Österreichische Sicherheitsstrategie, dass „Österreich seine sicherheitspolitischen Gestaltungschancen in erster Linie im Rahmen der UNO, der EU, der OSZE, von Partnerschaften mit der NATO und des Europarats wahrnimmt“. Die Sicherheitsstrategie streicht das durch die neuen, so genannten asymmetrischen Bedrohungen unumgänglich gewordene gemeinsame, arbeitsteilige Vorgehen der Akteure ebenso hervor wie die zunehmende Bedeutung Internationaler Organisationen und die abnehmende Wirksamkeit einzelstaatlichen Handelns.
„Nun sag, wie hast du’s mit der Neutralität?“, könnte man die Gretchenfrage an unser Land richten.
Der Autor dieser Zeilen plädiert dafür, die Neutralität nüchtern, realistisch und losgelöst von quasi-transzendenten Gedanken zu betrachten. Die verfassungs- und völkerrechtlichen Daten sind völlig klar: Das Neutralitätsgesetz verbietet die Mitgliedschaft in militärischen Bündnissen und die Errichtung militärischer Stützpunkte fremder Staaten. Punctum. Im allgemeinen Völkerrecht ist überdies dem Neutralen die Teilnahme, auch die indirekte Teilnahme, an Kriegen (im völkerrechtlichen Sinn) verboten, wobei aber solche ohnehin nicht mehr stattfinden. Von einem Neutralismus, der für politische Äquidistanz etwa zwischen einem Angreifer und einem Angegriffenen plädieren würde, ist nirgendwo die Rede.
Als Österreich der EU beitrat, hat es nicht nur keinen Neutralitätsvorbehalt erklärt, sondern sich ausdrücklich verpflichtet, die Entwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) voll mitzutragen. Dafür wurde im Bundes-Verfassungsgesetz ein eigener Artikel geschaffen, der dies ermöglicht. Dieser Art. 23j B-VG derogiert der Neutralität für den Bereich der GSVP. Alles, was in der GSVP stattfindet, ist damit neutralitätskonform, auch eine Beteiligung an einer möglichen künftigen gemeinsamen europäischen Armee und/oder Verteidigung. Die österreichische Unterstützung Frankreichs, das nach den Terroranschlägen die Beistandsklausel des Lissabonner Vertrages aktiviert hat, ist erfreulicherweise geradezu selbstverständlich und ohne jegliche neutralistische Begleitmusik erfolgt.
Mit der NATO, der wichtigsten sicherheitspolitischen Organisation, ist Österreich durch zahlreiche Partnerschaftsprogramme verbunden, wie viele andere neutrale und bündnisfreie Staaten auch. Die NATO räumt ihren Partnern beachtliche Mitwirkungsrechte ein, und diese sollte man nützen. Die NATO respektiert den Status ihrer Partner und drängt niemanden in Richtung Mitgliedschaft. Damit besteht für uns kein Anlass zu irgendeiner Berührungsangst. Überdies hat die EU eine sehr enge Kooperation mit der NATO, die jüngst durch die Warschauer Erklärung weiter vertieft wurde.
In Summe ist ein aktives und zukunftsgerichtetes Mitwirken an der europäischen Sicherheitspolitik im Rahmen der EU und als Partner der NATO nicht nur angezeigt, sondern auch unumgänglich, damit Österreich als außenpolitischer Akteur weiterhin ernst genommen und nicht als „Trittbrettfahrer“ abqualifiziert wird. Die Neutralität wird mit ihrem Kerngehalt wohl bestehen bleiben, darf uns aber nicht hindern, die gebotene Solidarität mit unseren Partnern zu üben. Keinesfalls sollte sie dazu führen, dass wir – um es mit Karl Farkas zu sagen – „vertrauensvoll in unsere Vergangenheit blicken“.