2016 – Allgemein – Karel Schwarzenberg


Das Land vergisst seine Berufung

Es ist nun mehr als ein Vierteljahrtausend her, dass die berühmte Schrift „Österreich über Alles, wann es nur will“ erschienen ist. Dieses Dokument hat jetzt wieder eine wirk­lich unerwartete Aktualität. Während es vor Jahr­hunderten mehr um die Frage ging, ob Österreich seine Interessen und Vorstellungen energisch durchbringt, so ist es heute absolut unklar, was Österreich eigentlich will. Ich gebe nur ein paar Beispiele: Der wirtschaftliche Aufstieg dank der Europäischen Union ist unfassbar. Man muss zum Bei­spiel nur das Burgenland ansehen, wie es vor 30 Jahren aus­ge­sehen hat und wie es heute aussieht. Das ist nicht nur Dank dem guten Wein, sondern auch durch beträchtliche Sub­­ventionen der Europäischen Union aufgebaut worden. Unzählige andere Infrastrukturmaßnahmen wurden nur durch Mit­hilfe der Europäischen Union realisiert und viele Betriebe in Österreich profitieren enorm von den Mög­lich­keiten, die es ohne die EU so nicht gäbe. Anstatt, dass die Österreicher begeisterte Vorkämpfer wären, Initiativen ergriffen und zeigten, wie sehr sie diese Mitgliedschaften schätzen und wie sehr sie sie für sich und die Umgebung ausnutzen wollen, raunzen sie die ganze Zeit und be­klagen sich über die Europäische Union. Man braucht nur in ein beliebiges Wiener oder auch steirisches Beisl zu gehen, und schon hört man das Klagen. Österreich ist zweifels­ohne ein klassisches mitteleuropäisches Land, benachbart nicht nur mit Deutschland, Italien, Liechtenstein und der Schweiz sondern auch mit Slowenien, Ungarn, der Slo­wa­kei und der Tschechischen Republik. Auch da würde man er­warten, dass Österreich in seinem Wohlstand und seiner euro­pa­politischen Erfahrung eine besondere Rolle spielen würde. Nicht im Geringsten – Österreich scheint der Illusion zu erliegen, dass es noch immer Vorderösterreich ist. Die Nach­barn wären Deutschland, die Schweiz und das Elsass, was aber weit entfernt ist, sind die anderen Staaten, die ich vorher erwähnt habe. Österreich betont auch immer, wie sehr es zu Westeuropa gehört. Wie immer, wenn jemand etwas zu sehr betont, entspricht es nur selten den Tat­sachen. Das Land vergisst seine Berufung, welche es durch Jahr­­hunderte gehabt hat.

Zurecht ruft Österreich nach einer effektiven Ver­teidi­gung der Grenzen der Europäischen Union, nur seine eigene Ar­mee hat es durch Jahrzehnte vernach­lässigt und am Exis­tenz­­mini­mum gehalten. Wie kann man von anderen eine Leistung verlangen, die man selbst unter­lassen hat?


Über Karl Schwarzenberg

Oberhaupt des historischen Fürstenhauses Schwarzenberg und ehem. Außenminister der Tschechischen Republik. 1990 bis 1992 Büroleiter des Staatspräsidenten Václav Havel. Er engagierte sich bereits früh auf internationaler Ebene für die Menschenrechte, u.a. war er von 1984 bis 1991 Präsident der Internationalen Helsinki-Föderation für Menschenrechte.