2021 – Stefan Thurner


// Unrosige Verfasstheiten //

Österreich, heißt es oft, sei eine Insel der Seligen. Aber eigentlich stimmt das Bild nicht wirklich. Österreich ist ja nicht allein in der Welt, umgeben von einem Meer aus Nichts. Die Verfassung – im Sinne von Verfasstheit – unserer Republik hängt untrennbar an der Verfasstheit Europas, und Europa kann nicht getrennt betrachtet werden vom Rest der Welt. Unser Land ist Teil eines komplexen Systems, ein Knoten in tausendfach vernetzten, weltumspannenden Netzwerken – sogenannten Multilayer-Netzwerken, in denen alles mit allem zusammen- und voneinander abhängt. Die Coronakrise hat uns diese vielen, oft über­raschenden Abhängigkeiten gerade mehr als deutlich vor Augen geführt.
Die Coronakrise erscheint uns gerade gewaltig. Aber in Wirklichkeit ist sie eine kleine und kurze Krise im Vergleich zur „Großen Krise“, in der wir bereits mitten drinstecken und die wir auch nicht so einfach wieder abdrehen werden können wie die Folgen eines einzelnen Virus‘.
Leider sehe ich nicht, dass gegen die „Große Krise“ – gemeint ist natürlich die Klimakrise – mit ähnlicher Ernsthaftigkeit angegangen wird wie gegen die Pandemie. Die wenigen Menschen mit sehr viel Macht, Geld und Einfluss reden die Klimakrise klein – manche stellen sie sogar infrage; oder sie reden ganz viel darüber, setzen aber nicht die dem Ernst der Lage entsprechenden Schritte zu ihrer Bekämpfung. Da könnte dann ja auch Unbequemes dabei sein; Maßnahmen, die den eigenen (durchaus auch meinen eigenen) Lebensstil infrage stellen. Da reden wir doch lieber noch ein bisschen länger…
Dieses Zaudern ist brandgefährlich. Wir haben nicht weniger als die ganze Welt zu transformieren und dafür kaum noch Zeit. Der Planet steht unmittelbar davor, so viele Tipping Points zu überschreiten – einige könnten sogar schon überschritten sein –, dass das Gesamtsystem Erde bald dramatisch kippen könnte. Das zeigen sämtliche komplexen Modellierungen von Ökosystemen, Wirtschaft, Klima, Nahrungsketten, Migration usw.
Wie also steht es um die Verfasstheit der Republik, die keine Insel, sondern mit der ganzen Welt verwoben ist? Ich würde sagen: nicht so rosig.


Über Stefan Thurner

Studium der theoretischen Physik und der Wirtschaftswissenschaften in Wien. Seit 2009 erster Universitätsprofessor für die Wissenschaft Komplexer Systeme an der Medizinischen Universität Wien (Leiter der Section for Science of Complex Systems), weitere externe und Gastprofessuren. Seit 2015 Präsident des von ihm mitbegründeten Complexity Science Hub Vienna. Österreichischer „Wissenschaftler des Jahres“ 2018. [Foto: © Christine Knoll]