2021 – Claus Raidl


// Die zerrissene Gesellschaft //

In jedem demokratischen Land, in jeder Gesellschaft, gibt es die unter­schiedlichsten Vorstellungen über die Art des Zu­sammenlebens der Menschen. Dazu einige Bei­spiele: mehr Staat – weniger Staat; mehr Freiheit oder mehr Sicher­­heit; Art der Ein­kommens­verteilung und Fragen von Um­ver­teilung, Vermögensverteilung und Ver­mögens­besteuerung; Gesamtschule bis zum 14. Lebens­jahr oder „Trennung“ schon ab dem 10. Lebensjahr; Unterschied Stadt – Land; Förderung von Kunst, Kultur und Wissenschaft; Neu­tralität oder Beitritt zur NATO; Über­wachungs­staat und Datenschutz und viele andere Punkte.
Durch Wahlen (und deren Ausgang) wird dann entschieden, in welche Richtung die politischen Ent­schei­dungen gehen werden und es wird natürlich versucht, Kompromisse zu finden. Ein kleines historisches Beispiel für diese Art von Politik: Nach jeder Nationalratswahl von 1945 bis 1970 wurde die Organisation und Ziel­setzung der Verstaatlichten Industrie geändert. Hat die ÖVP eine Wahl gewonnen, wurde die Verstaatlichte Industrie mehr privatrechtlich organisiert und nach markt­wirt­schaftlichen Grundsätzen geführt (z.B. Gründung der IBV 1956). Hat die SPÖ gewonnen, wurde (einfach ausgedrückt) alles wieder unter die Verwaltung eines Ministeriums gestellt („Königreich Waldbrunner“) und die Beschäftigungsmaximierung stand im Vordergrund. Nur Kreisky hat die ÖIAG, die 1967/70 von Dr. Taus als Staatssekretär gegründet wurde, in ihrer Form bestehen lassen und damit das Spiel mehr Staat – weniger Staat in diesem Bereich beendet.
Wie ist es heute? Versucht wirklich jede Partei, lösungs­orientiert Kompromisse zu finden oder ist es nicht auch bei uns schon so, dass man die Gegensätze vergrößert, um Wählerstimmen zu bekommen, wodurch die Gesellschaft aber zerrissen wird?
Es werden in der Politik nicht Botschaften des Ausgleichs und der Verständigung angeboten, sondern man ver­sucht, durch Agitation (mit allen modernen Mitteln der Kommuni­kation) die Gesellschaft zu spalten.
Auch dazu einige Beispiele: In der Frage des ganzen Kom­plexes Immi­gra­tion, Integration, Flüchtlinge ist die Gesell­­­schaft zer­rissen – man ist ent­weder dafür oder da­gegen. In der Frage Gesamtschule – Gymnasium ist die Gesell­schaft seit 1945 zerrissen und es gibt keine Ver­suche, diese Spaltung zu überwinden. Die Unterschiede zwischen der städtischen und ländlichen Bevölkerung werden zwar in wirtschaftlicher Hinsicht beispielsweise durch Raumordnungsgesetze gemildert, aber die unter­schiedliche Motivation und Lebenseinstellung der Stadt- und Landbevölkerung (siehe Wahlen!) sind Teil unserer zerrissenen Gesellschaft.
In der Gleichstellung von Frauen ist die Gesellschaft nach wie vor nicht geeint, sondern für politische Gruppen bietet die nicht gelöste Frage der Gleichstellung die Chance, Stimmen zu gewinnen, ohne zur Lösung der Frage einen Beitrag zu leisten. Die hohen Unterschiede bei den Jahres­einkommen der Beschäftigten (Vergleich Jahres­einkommen eines CEO und durchschnittliches Jahres­ein­kommen eines Beschäftigten) wird die Gesell­schaft zerreißen, weil manche Höhen von Vor­stands­bezügen nicht zu rechtfertigen sind. Das Argument, dass man als Vorstandsmitglied ein viel höheres Risiko trägt, stimmt nicht! Was passiert einem Vorstandsmitglied bei wirtschaftlichem Misserfolg? Man geht mit einer schönen Abfertigung und Pension nach Hause.
Jeder von uns kann sicher noch weitere Beispiele dieser Zerrissenheit bieten – doch worum geht es? Es geht darum, dass diese Fragen nicht mehr lösungsorientiert diskutiert werden, sondern man versucht, die Spaltung zu vergrößern, um Stimmen zu gewinnen.
Die Österreicher sind ja geneigt, Kompromisse zu suchen und sehen oft schon den Kompromiss vor der Kon­frontation. Doch auch bei uns setzt sich immer mehr die Strategie durch, keine Lösungen (Kompromisse) anzustreben, sondern durch eine Vertiefung der Spaltung Stimmen zu bekommen. In den USA scheint dies die Strategie der Republikaner zu sein.
Andreas Kirschofer-Bozenhardt hat in einem Gastbeitrag in der Presse (3. Juli 2020) die „Black Lives Matter“-Bewegung als Beispiel angeführt, wo Hassgefühle nicht gedämpft, sondern zusätzlich geschürt werden.
Bei uns scheinen bei allen angeführten Punkten ähnliche Motive zu existieren (Ausländer raus; holen Sie sich, was Ihnen zusteht; die EU muss weg etc.).
Es wäre sicher der Mühe wert, zum Thema „Wie zerrissen ist unsere Gesellschaft?“ mit Tiefe, anhand von Analysen und evidenzbasiert zu diskutieren. Denn für gewisse Parteien wird die Spaltung der Gesellschaft zum Geschäfts­modell.


Über Claus J. Raidl

2008 bis 2018 Präsident der Oesterreichischen Nationalbank. Unter anderem ehem. Vorstandsvorsitzender der Böhler-Uddeholm AG sowie Mit­glied des Vorstandes der voestalpine AG. Weiters Vorsitzender des Kura­toriums der I.S.T. Austria (Institute of Science and Technology – Austria), langjähriger Vizepräsident des Europäischen Forum Alpbach und in ver­schie­denen anderen Funktionen tätig. [Foto: © OeNB]