2021 – Andreas Kumin


// Statik und Dynamik auf einem soliden Wertefundament //

Unser bewährtes Lebensmodell sieht sich trotz allem Anschein der Stabilität und des Wohlstands immer wieder neuen Herausforderungen gegenüber, die sogar für selbstverständlich erachtete Errungenschaften wie die Personenfreizügigkeit existentiell bedrohen. Gegenwärtig – nach den Krisen der Finanzmärkte und der Migrationspolitik sowie dem EU-Austritt des Vereinigten Königreichs – stehen die Bewältigung der Folgen der Pandemie und die Sicherung einer nachhaltigen Umwelt- und Klimapolitik im Vordergrund.
Welchen Beitrag kann ein Staat wie Österreich leisten, um Bewährtes zu erhalten und zeitgemäß fortzuentwickeln? Angesichts der Einbettung in eine übernationale Rechts- und Wirtschaftsgemeinschaft in Europa und der globalen Verflechtung von Handel, Transportwesen und Kommunikation kann sich nämlich kein Land alleine diesen Aufgaben erfolgreich stellen. Die Wahrung des Rechts beim Verwaltungshandeln, unabhängige nationale Gerichte als funktionelle Unionsgerichte und Garanten eines effektiven Rechtsschutzes, ergänzt durch Solidaritäts-, Kompromiss- und Dialogbereitschaft, können erst das erforderliche Vertrauen der Bürger*innen sowie der anderen Mitgliedstaaten schaffen. Aufbauend auf einem gemeinsamen, soliden Wertefundament von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit fließt die glaubwürdige Verfolgung eigener Interessen derart ein in eine genuin gesamteuropäische Debatte.
Die Verfasstheit der EU hängt besonders von der Fähigkeit der mitgliedstaatlichen Verfassungen ab, Beständigkeit und Rechtssicherheit mit Anpassungsfähigkeit an neue Herausforderungen zu vereinen. Daher gewinnen Reformdiskussionen wie die gegenständliche einen besonderen Mehrwert, wenn sie nicht nur mit Blick auf die eigenen Interessen der Mitgliedstaaten und deren Regionen mit Gesetzgebungsbefugnissen geführt werden, sondern auch jene der EU insgesamt im Auge behalten. Ein solcher Ansatz ist geeignet, dem europäischen Verfassungs-, Verwaltungs- und Gerichtsverbund und den Bemühungen um die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit sowie der Krisenreaktionsfähigkeit unseres Europas eine neue Dynamik zu verleihen.


Über Andreas Kumin

Studium der Rechtswissenschaften in Graz, Diplome in Über­setzungs­wissenschaften und öffentlicher Verwaltung. Ab 1990 im öster­reichi­schen diplomatischen Dienst, seit 2000 in der Abteilung für Europa­recht (Völkerrechtsbüro) des Außenministeriums, deren Leiter 2005 bis 2019. Seit 2014 Universitätsprofessor für Europarecht an der Uni­versität Graz. Seit März 2019 Richter am Gerichtshof der Euro­päischen Union.