2018 – Klaus Poier


Polarisierung entschärfen – Mitte stärken

Nicht zuletzt seit der Zuspitzung der sogenannten „Flüchtlingskrise“ im Herbst 2015 wird die Gefahr einer Spaltung der Gesellschaft in Österreich, aber auch in vielen anderen Ländern Europas intensiv diskutiert. In der medialen Öffentlichkeit und insbesondere auf Social-Media-Kanälen wurde der Diskurs immer polarisierter, in der Regel mit wechselseitigen Beschimpfungen von „Gutmenschen“ auf der einen und „Ausländerfeinden“ auf der anderen Seite. Vernunftgeleitete Stimmen der Mitte können sich angesichts dieser Aufwallungen immer weniger Gehör verschaffen. Auch die möglichen Auswirkungen einer solchen Spaltung auf Wahlgänge – bzw. ihr Sichtbarwerden dabei – wurden zum Thema (man denke etwa an die publizierten Wahlforschungsanalysen zur Bundespräsidentenwahl 2016; international nicht zuletzt auch an „Brexit“ oder die US-Wahl 2016).

Das „Reizthema“ Migration ist bei tiefgehender Betrachtung lediglich ein Faktor, allenfalls sogar mehr Symptom als Ursache gesellschaftlicher Polarisierung. Viele Untersuchungen zeigen, dass sich die Gruppe derjenigen, die optimistisch in die Zukunft blicken (können), eine kosmopolitisch orientierte Grundeinstellung einnehmen, und die Gruppe derjenigen, die ihre (Arbeitsmarkt-)Chancen pessimistisch beurteilen (müssen), internationale Öffnung als Gefahr und Identitätsgefährdung empfinden, immer deutlicher gegenüberstehen.

Die Institutionen der politischen Systeme (insbesondere die bisher staatstragenden Parteien) fanden bislang keine ausreichenden Lösungen für diese Spaltungstendenzen. „Alte Rezepte“ der Konflikt- und Diversitätsbewältigung – wie in Österreich z.B. Konkordanzdemokratie, Sozialpartnerschaft, klassischer Minderheitenschutz – konnten unter neuen Bedingungen nicht mehr dieselben Funktionsleistungen erbringen. Das Aufkommen bzw. Erstarken populistischer Bewegungen und Parteien war die Folge: Sie profitieren von den Ängsten und der Unzufriedenheit eines nicht geringen Teiles der Bevölkerung, andererseits schüren sie diese in der Regel auch.

Die schwierige Aufgabe, der wir uns stellen müssen, ist es, die Institutionen und Prozesse der politischen Systeme hinsichtlich ihrer Repräsentations-, Legitimations- und Konfliktlösungsfähigkeit wieder zu stärken, um dieser drohenden Spaltung der Gesellschaft entgegenzuwirken. Insbesondere geht es auch darum, dass die vernunftgeleitete Position der Mitte gestärkt wird, die auf den Errungenschaften von Rechtsstaat, Demokratie, sozialer Wohlfahrt, Frieden, Freiheit (vgl. Art. 2 und 3 des Vertrags über die Europäische Union) den gesellschaftlichen Ausgleich ermöglicht.


Über Klaus Poier

Universitätsprofessor am Institut für Öffentliches Recht und Politik­wissen­schaft der Universität Graz, Forschungsschwerpunkte: Wahl­recht, Direkte Demokratie und Demokratiereform. Langjährige Ex­perten­tätig­keit in Fragen Demokratie- und Staatsreform, u.a. Mitglied im Österreich-Konvent. Seit 2015 Mitglied des ORF-Stiftungsrates. [Foto: © Teresa Rothwangl]