2018 – Georg Schulz


Musik als gesellschaftspolitischer Brückenbauer
In einer Gesellschaft, in der sich die Kluft zwischen Bevölkerungsgruppen vergrößert, Egoismus und damit auch Einsamkeit zunehmen und die Flucht in virtuelle Welten als scheinbare Problemlösung den Blick auf die Realität verstellt, muss Kunst und Kultur wieder eine größere Rolle spielen. Wer einmal das Gemeinschaftsgefühl miterlebt hat, wenn in einer Blaskapelle Volksschülerinnen und Volksschüler mit Menschen im Ruhestand zusammen Freude an der Musik empfinden, wer sich beim Singen in einem Kirchenchor durch die Kraft der Musik spirituell berühren ließ, wer gespürt hat, wie ein Streichquartett musikalisch zusammen atmet oder wer je beobachten konnte, wie das gemeinsame Musizieren mit Migrantinnen und Migranten auf gleicher Augenhöhe Integration bewirkt, kann sich vorstellen, welches gesellschaftspolitische Potenzial im gemeinsamen Musizieren steckt.
Nun ist es allerdings eine Tatsache, dass sich die österreichischen Musikuniversitäten traditionell in ihrer Verantwortung für die musikalischen Eliten verstehen. Das ist auch gut so, denn das „Musikland Österreich“ braucht exzellenten Nachwuchs in den Spitzenorchestern, Opernhäusern, Schauspielhäusern und auf allen Bühnen. Die ausstrahlende Wirkung der herausragenden Musikerinnen und Musiker, die – nach einem Studium in Österreich – als Botschafterinnen und Botschafter für die österreichische Hochkultur zurück in ihre Heimatländer auf allen Kontinenten gehen, ist nicht hoch genug einzuschätzen. Alle Absolventinnen und Absolventen nehmen mit, wie die gelebte Interkulturalität an den österreichischen Musikuniversitäten als Vorbild für ein gedeihliches Zusammenleben gesehen werden kann. Und doch greift es nach meiner Meinung zu kurz, wenn sich die Musikuniversitäten ausschließlich auf das fokussieren, was wir Hochkultur nennen.
Denn um das eingangs erwähnte gemeinsame Musizieren anzuleiten und zu befördern, braucht es engagierte Künstlerinnen und Künstler. Es geht also im Studium nicht nur darum, die dafür benötigten Fertigkeiten gelehrt zu bekommen, sondern es sollte gelingen, bei den Studierenden ein Verantwortungsgefühl für die gesamte Gesellschaft zu stärken. Am Ende muss es für jede Absolventin und jeden Absolventen eine Selbstverständlichkeit sein, die eigene Begabung und die erarbeitete künstlerische Meisterschaft nicht nur mit einem verständigen Publikum durch Aufführungen teilen zu wollen, sondern die Freude am gemeinsamen Musizieren unmittelbar vermittelnd hinaus in die Gesellschaft zu tragen und sich als deren Teil zu sehen.
Die Kunstuniversität Graz war seit ihrer Akademisierung im Jahr 1963 eine Vorreiterin in Sachen Neuer Musik und Jazz. Möge es uns gelingen, sie auch zu einem Beispiel für außergewöhnliches gesellschaftspolitisches Engagement zu machen.


Über Georg Schulz

Studien der Chemie, Musik und des Hochschulmanagements. Inter­national als Musiker mit den Schwerpunkten Neue Musik, Kammer­musik und Theatermusik tätig. Seit 1991 Lehrender an der Kunst­uni­versität Graz, ebendort Rektor 2007 bis 2012 und seit 1. März 2020 wieder Rektor. Seit 2014 Vizepräsident des Europäischen Musik­hoch­schul­verbands AEC, seit 2017 im Vorstand des „Institutional Evaluation Programme“ der Europäischen Rektorenkonferenz. [Foto: © Alexander Wenzel]